AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG REINER RIEDLER
THIS SIDE OF PARADISE
03.03.2022
AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG REINER RIEDLER
THIS SIDE OF PARADISE
03.03.2022
Am 03.03.2022 eröffnete Regisseur und Autor David Schalko die Ausstellung REINER RIEDLER. THIS SIDE OF PARADISE mit einer fulminanten Laudatio:
"Ein verirrt wirkender Astronaut in einem Wasserrutschenparadies.
Ein Paar, das auf einer Wasserbrücke stehend in den gefakten blauen Himmel schaut. Der überdimensionierte Hintersetzer, steht im Tropical Ressort in Berlin Brandenburg, wo auch ein großer künstlicher Sandstrand simuliert wird. Kinder bauen Sandburgen, Menschen liegen wie Sardinen oder flanieren am Ufer entlang. Man kann die Darsteller von Eisverkäufern förmlich vor sich sehen. Sie sind mehr Eisverkäufer als Eisverkäufer in der Realität. Und wären da nicht die Scheinwerfer, die an der Kuppel hängen, die abgestandene Luft und der Hall der Menschenmassen, man könnte glauben, die Behauptung wäre echt. Es ist kein Luftschloss, dass man in die ehemalige Luftschiffhalle gebaut hat. Es ist eine Realität für sich.
Ähnlich der chinesische Themenpark „Window to the World“. Dort posiert ein Hochzeitspaar vor den imitierten Pyramiden. Gleich neben dem Bildrand der Eiffelturm. Man unternimmt eine Weltreise in Sirupform. Man glotzt auf Tierstatuen von vorbeiziehenden Herden in der afrikanischen Savanne und hegt den unbehaglichen Verdacht, dass für Generationen nach uns, all dies nur noch in simulierter Form erleben werden.
Prophezeit die Schihalle in Dubai die Fremdenverkehrszukunft in Tirol während des Klimawandels? Eine Piefkesaga mit überdachten Bergen?
Was bleibt nach einer Holy Land Experience in Orlando, wo auch die Kreuzigung von Jesus nachgestellt wird?
Nur den Minsk World Military Park hat man vielleicht voreilig in den historischen Themenpark verbannt. Dieser ist aktueller denn je.
Viele der Kulissen wirken wackelig. Klobig stapfen die Beteiligten durch wie der Mann auf Schi, der nur scheinbar vor einem ausgestopften Bären flieht.
All diese Ort agieren als Auslöser von Gefühlen. In diesem Fall Urlausbgefühlen. Sie versuchen auf ungelenke Art Sehnsüchte zu stillen, indem sie selbige nachstellen.
Es sind analoge Vorläufer einer simulierten Welt, in der das Abbild längst zur Realität geworden ist. Solange bis man die Realität dem Abbild anpassen will. Weil diese nicht grell genug ist.
Es ist wie bei Fellini, der sagte: Wenn ich das Meer erzählen will, dann filme ich nicht das Meer, ich baue es nach. Denn es geht nicht um das echte Meer, es geht um meine Vorstellung von Meer.
Die Nachahmung des Vorzufindenden simuliert nicht nur Sinn, sondern auch Schöpferillusion. Unbeabsichtigt wird genau dadurch die Traurigkeit des menschlichen Daseins verdeutlicht. Die Authentiker, die sich akribisch, aber ungelenk darum bemühen, die Realität in ihrem Sinne nachzuahmen, sind die Soldaten einer gescheiterten Sehnsucht. Das Aufbäumen gegen eine Kargheit indem man die Kargheit nachbaut und sie dadurch markiert.
All das findet Reiner Riedler vor. Er inszeniert diese Welten nicht. Er sucht sie auf. Und blickt verstohlen hinter den Vorhang der Behauptung.
Es ist kein unfreundlicher Blick, kein denunzierender Blick, den Riedler auf sie wirft. Er stellt das Vorgefundene nicht aus, er führt nicht vor, sondern er sucht nach dem poetischen Schlupfloch, er sucht die Schönheit der Melancholie einer unerfüllten Sehnsucht. In Riedlers Werk geht es um Sehnsucht. Noch mehr geht es aber um die Sehnsucht nach der Sehnsucht.
Ein Beispiel ist die verträumt reitende Zirkusprinzessin mitten im Plattenbau. Ganz bei sich und ihren rosaroten Bonbonträumen piaffiert sie mit ihrem Dressurpferd. Es ist dies eine anrührende Serie über den Zerfall des russischen Nationalzirkus nach dem Zerfall der UDSSR. Der Zirkus - an sich ein Ort der Sehnsucht – verliert hier seinen Glanz und kämpft um seine Existenz. Die Bilder erzählen nicht nur den Zerfall, sondern eben auch die Sehnsucht nach dieser Sehnsucht. Wir brauchen diese Sehnsucht mehr als deren Erfüllung. Es ist ein Aufbäumen gegen die Kargheit der Welt. Die verträumte Reiterin wäre ohne den Plattenbau dahinter eine andere. Ihre Würde, ihr Protest gegen die Geworfenheit würde ohne diesen Hintergrund nie so deutlich. Fotos sind immer auch Beweismaterial. Diese Fotos sind vielleicht Beweise für die Abwesenheit Gottes. Und die Würde mit der wir uns als Menschen bekleiden, um in dieser Trostlosigkeit zu bestehen, ist vielleicht das Festgewand, das wir anbehalten, falls er doch noch erscheint, um uns zu sagen: Es war alles nur ein Scherz.
Diesen Moment scheint Riedler immer zu suchen. Es ist sein erzählender Blick,
der nichts der Lächerlichkeit preisgibt, sondern stets als Epiphanien erzählt, wie Menschen versuchen, Lücken zu füllen.
Ein Bild zeigt einen Mann, der in Badehose auf einem kargen steinigen Strand sitzt und einen Sonnenschirm schützend über sich und seine schlafende Frau hält. Doch eigentlich hofft er auf eine Windböe, die ihn davonweht - in ein anderes Leben.
Es geht um den Blick auf Hoffnung, vor allem auf enttäuschte Hoffnung.
Es muss nicht immer Sehnsucht sein. Manchmal ist davon nichts mehr übrig. Wie zum Beispiel in dem Zyklus über Albanien.
Düsteres Schwarzweiß.
Verfallene Gebäude.
Verfallene Gesichter.
Havarien.
Unversehrte Stalinstatuen inmitten verwüsteter Ruinen.
Ein enttäuschter Bub unter einem Coca-Cola Schirm.
Ein Brautpaar, dem die Enttäuschung der nächsten 20 Jahre schon jetzt ins Gesicht geschrieben steht.
Albanien erzählt von einem Land der gebrochenen Versprechen. Der unerfüllten Sehnsüchte, wenn man bereits seit langem weiß, da kommt nichts mehr. Die Sehnsucht ist nicht Endstation. Das Sterben der Sehnsucht ist es. Albanien als Ort in dem alle Verheißungen versiegt sind – sei es der Kapitalismus, der Katholizismus, der Kommunismus.
Die Sowjetunion in Form ihrer Abwesenheit oder besser: der Anwesenheit ihrer Abwesenheit ist ein wiederkehrendes Thema bei Riedler. Auch im Zyklus über die Ukraine aus dem Jahre 2003. Immer wieder tauchen Sowjetrelikte auf, meistens verfallen. In Tagen wie diesen erzeugen diese Bilder ein Echo. Als ob man die Ukrainer mit den Trümmern alleingelassen hätte – so wie sie einst Atomraketen von den Sowjets erbten – und sie beinahe ratlos retournierten. Ein Jahrzehnt lang ist die Ukraine in Stagnation, Korruption und Apathie entschwunden. Im Vorwort zu dem Band heißt es: Im Gegensatz zu den baltischen Staaten und den benachbarten Polen haben sich die Ukrainer die Unabhängigkeit nie erkämpft. Sie fiel ihnen durch den Zusammenbruch der UDSSR in den Schoß. Man hat das Gefühl, genau dieser Kampf wird jetzt unfreiwillig nachgeholt. Denn ohne die reichhaltige, große Ukraine ist Russland keine Weltmacht mehr. Über die Hälfte der Ukrainer geben Russisch als ihre Umgangssprache an. Und obwohl das Ukrainische bereits unter Stalin verboten war, obwohl er in einem beispiellosen Völkermord Millionen von Ukrainern auf dem nicht vorhandenen Gewissen hatte, trotz der Deportationen der Tartaren auf der Krim, und der darauffolgenden Besiedelung selbiger durch die Russen, ist das kulturelle Selbstempfinden der Ukrainer nie verschwunden. Der Hass, dass dem so ist, den muss die Ukraine jetzt spüren. Wohlwissend, dass die Ukraine schon zu Zarenzeiten eine russische
Eroberung, aber nie Russland war. In Riedlers Arbeit sieht man die Ukraine, wie sie sich selbst zum Leben erweckt, man sieht eine Ukraine vor der Zeitenwende, eine Ukraine vor der Annexion der Krim. Sie wirkt aus der Zeit gefallen. Noch auf der Suche nach sich selbst. Beim Aufklauben der Scherben. Man sieht eine Ukraine, die vor allem eine Abwesenheit der UDSSR erzählt. Und man sieht Gesichter, die in freundlicher Nachbarschaft zu diesem Verfall lebt. Und ihn mit Leben füllt.
In ein paar Jahrzehnten wird man von Putin wie von Stalin sprechen. Mit dem Unterschied, dass es keine Statuen geben wird, die beleidigt in der Gegend herumstehen. Nichts Sichtbares wird von Putin bleiben. Denn Oligarchen baut man keine Denkmäler. Es gibt ihn nicht, den Putinismus. Es gibt nur Kaltherzigkeit, Brutalität und Gier. Dieser Freudlosigkeit stehen menschliche Gesichter gegenüber, die einem zeigen, dass der Wunsch zu leben immer stärker sein wird als die Totmacher, deren einziges Ziel es ist, sich in steinerne Statuen zu verwandeln, in der Hoffnung, so der Vorläufigkeit zu entrinnen. Riedlers Arbeiten sind immer ein JA zum Leben. Zur Lebendigkeit. Selbst wenn er keine Menschen fotografiert, sondern zugesperrte Räume, aus denen das Leben ausgeschlossen ist. Im Zyklus „End of the Night“ geht es um verlassene Partyräume in Zeiten des Lockdowns. Eine geschlossene Gesellschaft. Hinter den Türen steht aufgestapeltes Mobiliar. Kalt und ungeheizt. Seelenlos, dem Verfall übergeben. Was wird aus Räumen, wenn die Sehnsucht geht? Wenn der Zirkus auszieht? Der Anblick des Todes erzählt immer die Sehnsucht nach Leben.
Auf einem der Bilder sieht man einen Mann mit einer Discokugel auf dem Kopf. Es wirkt als könne er sich ihrer nicht entledigen. Vielleicht wird er daran ersticken. Vielleicht ist ihm die Sehnsucht zum Verhängnis geworden. Vielleicht hängt er bald an einem der medizinischen Geräte, die Riedler im Zyklus Will porträtiert. Manchmal liegt die Sehnsucht vor allem im Wunsch zu Überleben. Manchmal erzählt eine Prothese mehr über das Fehlen einer Hand als die Hand selbst. Oder die Lücke, die sie hinterlässt. In Reiner Riedlers Werken geht es immer darum, wie Menschen versuchen, die vorgefundenen Lücken zu füllen. In Reiner Riedlers Werken geht es immer um Würde."
Rebekka Reuter
Rebekka Reuter, Reiner Riedler mit Sohn Viktor, David Schalko & Michael Reitter-Kollmann
Fotos: © Christian Skalnik & Rachele Moriggi
AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG REINER RIEDLER
THIS SIDE OF PARADISE
03.03.2022
Am 03.03.2022 eröffnete Regisseur und Autor David Schalko die Ausstellung REINER RIEDLER. THIS SIDE OF PARADISE mit einer fulminanten Laudatio:
"Ein verirrt wirkender Astronaut in einem Wasserrutschenparadies.
Ein Paar, das auf einer Wasserbrücke stehend in den gefakten blauen Himmel schaut. Der überdimensionierte Hintersetzer, steht im Tropical Ressort in Berlin Brandenburg, wo auch ein großer künstlicher Sandstrand simuliert wird. Kinder bauen Sandburgen, Menschen liegen wie Sardinen oder flanieren am Ufer entlang. Man kann die Darsteller von Eisverkäufern förmlich vor sich sehen. Sie sind mehr Eisverkäufer als Eisverkäufer in der Realität. Und wären da nicht die Scheinwerfer, die an der Kuppel hängen, die abgestandene Luft und der Hall der Menschenmassen, man könnte glauben, die Behauptung wäre echt. Es ist kein Luftschloss, dass man in die ehemalige Luftschiffhalle gebaut hat. Es ist eine Realität für sich.
Ähnlich der chinesische Themenpark „Window to the World“. Dort posiert ein Hochzeitspaar vor den imitierten Pyramiden. Gleich neben dem Bildrand der Eiffelturm. Man unternimmt eine Weltreise in Sirupform. Man glotzt auf Tierstatuen von vorbeiziehenden Herden in der afrikanischen Savanne und hegt den unbehaglichen Verdacht, dass für Generationen nach uns, all dies nur noch in simulierter Form erleben werden.
Prophezeit die Schihalle in Dubai die Fremdenverkehrszukunft in Tirol während des Klimawandels? Eine Piefkesaga mit überdachten Bergen?
Was bleibt nach einer Holy Land Experience in Orlando, wo auch die Kreuzigung von Jesus nachgestellt wird?
Nur den Minsk World Military Park hat man vielleicht voreilig in den historischen Themenpark verbannt. Dieser ist aktueller denn je.
Viele der Kulissen wirken wackelig. Klobig stapfen die Beteiligten durch wie der Mann auf Schi, der nur scheinbar vor einem ausgestopften Bären flieht.
All diese Ort agieren als Auslöser von Gefühlen. In diesem Fall Urlausbgefühlen. Sie versuchen auf ungelenke Art Sehnsüchte zu stillen, indem sie selbige nachstellen.
Es sind analoge Vorläufer einer simulierten Welt, in der das Abbild längst zur Realität geworden ist. Solange bis man die Realität dem Abbild anpassen will. Weil diese nicht grell genug ist.
Es ist wie bei Fellini, der sagte: Wenn ich das Meer erzählen will, dann filme ich nicht das Meer, ich baue es nach. Denn es geht nicht um das echte Meer, es geht um meine Vorstellung von Meer.
Die Nachahmung des Vorzufindenden simuliert nicht nur Sinn, sondern auch Schöpferillusion. Unbeabsichtigt wird genau dadurch die Traurigkeit des menschlichen Daseins verdeutlicht. Die Authentiker, die sich akribisch, aber ungelenk darum bemühen, die Realität in ihrem Sinne nachzuahmen, sind die Soldaten einer gescheiterten Sehnsucht. Das Aufbäumen gegen eine Kargheit indem man die Kargheit nachbaut und sie dadurch markiert.
All das findet Reiner Riedler vor. Er inszeniert diese Welten nicht. Er sucht sie auf. Und blickt verstohlen hinter den Vorhang der Behauptung.
Es ist kein unfreundlicher Blick, kein denunzierender Blick, den Riedler auf sie wirft. Er stellt das Vorgefundene nicht aus, er führt nicht vor, sondern er sucht nach dem poetischen Schlupfloch, er sucht die Schönheit der Melancholie einer unerfüllten Sehnsucht. In Riedlers Werk geht es um Sehnsucht. Noch mehr geht es aber um die Sehnsucht nach der Sehnsucht.
Ein Beispiel ist die verträumt reitende Zirkusprinzessin mitten im Plattenbau. Ganz bei sich und ihren rosaroten Bonbonträumen piaffiert sie mit ihrem Dressurpferd. Es ist dies eine anrührende Serie über den Zerfall des russischen Nationalzirkus nach dem Zerfall der UDSSR. Der Zirkus - an sich ein Ort der Sehnsucht – verliert hier seinen Glanz und kämpft um seine Existenz. Die Bilder erzählen nicht nur den Zerfall, sondern eben auch die Sehnsucht nach dieser Sehnsucht. Wir brauchen diese Sehnsucht mehr als deren Erfüllung. Es ist ein Aufbäumen gegen die Kargheit der Welt. Die verträumte Reiterin wäre ohne den Plattenbau dahinter eine andere. Ihre Würde, ihr Protest gegen die Geworfenheit würde ohne diesen Hintergrund nie so deutlich. Fotos sind immer auch Beweismaterial. Diese Fotos sind vielleicht Beweise für die Abwesenheit Gottes. Und die Würde mit der wir uns als Menschen bekleiden, um in dieser Trostlosigkeit zu bestehen, ist vielleicht das Festgewand, das wir anbehalten, falls er doch noch erscheint, um uns zu sagen: Es war alles nur ein Scherz.
Diesen Moment scheint Riedler immer zu suchen. Es ist sein erzählender Blick,
der nichts der Lächerlichkeit preisgibt, sondern stets als Epiphanien erzählt, wie Menschen versuchen, Lücken zu füllen.
Ein Bild zeigt einen Mann, der in Badehose auf einem kargen steinigen Strand sitzt und einen Sonnenschirm schützend über sich und seine schlafende Frau hält. Doch eigentlich hofft er auf eine Windböe, die ihn davonweht - in ein anderes Leben.
Es geht um den Blick auf Hoffnung, vor allem auf enttäuschte Hoffnung.
Es muss nicht immer Sehnsucht sein. Manchmal ist davon nichts mehr übrig. Wie zum Beispiel in dem Zyklus über Albanien.
Düsteres Schwarzweiß.
Verfallene Gebäude.
Verfallene Gesichter.
Havarien.
Unversehrte Stalinstatuen inmitten verwüsteter Ruinen.
Ein enttäuschter Bub unter einem Coca-Cola Schirm.
Ein Brautpaar, dem die Enttäuschung der nächsten 20 Jahre schon jetzt ins Gesicht geschrieben steht.
Albanien erzählt von einem Land der gebrochenen Versprechen. Der unerfüllten Sehnsüchte, wenn man bereits seit langem weiß, da kommt nichts mehr. Die Sehnsucht ist nicht Endstation. Das Sterben der Sehnsucht ist es. Albanien als Ort in dem alle Verheißungen versiegt sind – sei es der Kapitalismus, der Katholizismus, der Kommunismus.
Die Sowjetunion in Form ihrer Abwesenheit oder besser: der Anwesenheit ihrer Abwesenheit ist ein wiederkehrendes Thema bei Riedler. Auch im Zyklus über die Ukraine aus dem Jahre 2003. Immer wieder tauchen Sowjetrelikte auf, meistens verfallen. In Tagen wie diesen erzeugen diese Bilder ein Echo. Als ob man die Ukrainer mit den Trümmern alleingelassen hätte – so wie sie einst Atomraketen von den Sowjets erbten – und sie beinahe ratlos retournierten. Ein Jahrzehnt lang ist die Ukraine in Stagnation, Korruption und Apathie entschwunden. Im Vorwort zu dem Band heißt es: Im Gegensatz zu den baltischen Staaten und den benachbarten Polen haben sich die Ukrainer die Unabhängigkeit nie erkämpft. Sie fiel ihnen durch den Zusammenbruch der UDSSR in den Schoß. Man hat das Gefühl, genau dieser Kampf wird jetzt unfreiwillig nachgeholt. Denn ohne die reichhaltige, große Ukraine ist Russland keine Weltmacht mehr. Über die Hälfte der Ukrainer geben Russisch als ihre Umgangssprache an. Und obwohl das Ukrainische bereits unter Stalin verboten war, obwohl er in einem beispiellosen Völkermord Millionen von Ukrainern auf dem nicht vorhandenen Gewissen hatte, trotz der Deportationen der Tartaren auf der Krim, und der darauffolgenden Besiedelung selbiger durch die Russen, ist das kulturelle Selbstempfinden der Ukrainer nie verschwunden. Der Hass, dass dem so ist, den muss die Ukraine jetzt spüren. Wohlwissend, dass die Ukraine schon zu Zarenzeiten eine russische
Eroberung, aber nie Russland war. In Riedlers Arbeit sieht man die Ukraine, wie sie sich selbst zum Leben erweckt, man sieht eine Ukraine vor der Zeitenwende, eine Ukraine vor der Annexion der Krim. Sie wirkt aus der Zeit gefallen. Noch auf der Suche nach sich selbst. Beim Aufklauben der Scherben. Man sieht eine Ukraine, die vor allem eine Abwesenheit der UDSSR erzählt. Und man sieht Gesichter, die in freundlicher Nachbarschaft zu diesem Verfall lebt. Und ihn mit Leben füllt.
In ein paar Jahrzehnten wird man von Putin wie von Stalin sprechen. Mit dem Unterschied, dass es keine Statuen geben wird, die beleidigt in der Gegend herumstehen. Nichts Sichtbares wird von Putin bleiben. Denn Oligarchen baut man keine Denkmäler. Es gibt ihn nicht, den Putinismus. Es gibt nur Kaltherzigkeit, Brutalität und Gier. Dieser Freudlosigkeit stehen menschliche Gesichter gegenüber, die einem zeigen, dass der Wunsch zu leben immer stärker sein wird als die Totmacher, deren einziges Ziel es ist, sich in steinerne Statuen zu verwandeln, in der Hoffnung, so der Vorläufigkeit zu entrinnen. Riedlers Arbeiten sind immer ein JA zum Leben. Zur Lebendigkeit. Selbst wenn er keine Menschen fotografiert, sondern zugesperrte Räume, aus denen das Leben ausgeschlossen ist. Im Zyklus „End of the Night“ geht es um verlassene Partyräume in Zeiten des Lockdowns. Eine geschlossene Gesellschaft. Hinter den Türen steht aufgestapeltes Mobiliar. Kalt und ungeheizt. Seelenlos, dem Verfall übergeben. Was wird aus Räumen, wenn die Sehnsucht geht? Wenn der Zirkus auszieht? Der Anblick des Todes erzählt immer die Sehnsucht nach Leben.
Auf einem der Bilder sieht man einen Mann mit einer Discokugel auf dem Kopf. Es wirkt als könne er sich ihrer nicht entledigen. Vielleicht wird er daran ersticken. Vielleicht ist ihm die Sehnsucht zum Verhängnis geworden. Vielleicht hängt er bald an einem der medizinischen Geräte, die Riedler im Zyklus Will porträtiert. Manchmal liegt die Sehnsucht vor allem im Wunsch zu Überleben. Manchmal erzählt eine Prothese mehr über das Fehlen einer Hand als die Hand selbst. Oder die Lücke, die sie hinterlässt. In Reiner Riedlers Werken geht es immer darum, wie Menschen versuchen, die vorgefundenen Lücken zu füllen. In Reiner Riedlers Werken geht es immer um Würde."
Rebekka Reuter
Rebekka Reuter, Reiner Riedler mit Sohn Viktor, David Schalko & Michael Reitter-Kollmann
Fotos: © Christian Skalnik & Rachele Moriggi